Im Gespräch mit IHK-Onlineredakteur Tilo Sommer wirft Ranga Yogeshwar seinen persönlichen Blick auf das Heimatland seines Vaters, in dem er seine frühe Kindheit überwiegend verbrachte.
Foto: Klaus Görgen
Indien. 1,4 Milliarden Einwohnerinnen und Einwohner. 6,5 Prozent Wirtschaftswachstum. Die Zukunftsaussichten: vielversprechend. Bis 2030 soll das Bruttoinlandsprodukt 6,8 Billionen US-Dollar betragen. Der schlafende Riese in Südasien ist längst erwacht und hat sich auf den Weg gemacht, eine neue wirtschaftliche Supermacht zu werden. Ranga Yogeshwar hat den Aufschwung Indiens hin zur am schnellsten wachsenden großen Volkswirtschaft der Welt verfolgt und auch selbst miterlebt. Mit der IHK Ostwestfalen spricht der Wissenschaftler, Journalist und Autor über das Heimatland seines Vaters und Chancen, die dieser dynamische Markt bietet.
Auf die Frage nach seiner Kindheit in Indien zeichnet Yogeshwar mit Worten ein malerisches, ursprüngliches Bild: Es handelt von schönen Reisfeldern, Baumalleen und einer Bahnschiene, an der ein kleiner Junge sehnsüchtig auf eine alte Dampflok wartet. Yogeshwar, 1959 in Luxemburg als Sohn eines indischen Ingenieurs und einer luxemburgischen Künstlerin geboren, verbrachte seine frühe Kindheit überwiegend in Indien. Aufgewachsen ist er im Süden des Landes, in Bengaluru.
Die Reisfelder, Alleen und die Bahnschiene von damals existieren nur noch in seiner Erinnerung. „Das ist jetzt alles Stadt“, sagt Yogeshwar. Mehr als zwölf Millionen Menschen lebten bereits 2022 in Bengaluru.
Die Transformation sei so extrem, dass man sich oft nicht mehr wiederfindet. So beschreibt es Yogeshwar, der alle paar Jahre vor Ort ist. Keinesfalls geschehe das im ganzen Land im Gleichschritt. Yogeshwar erlebt Indien als Land der Extreme und Gegensätze: „Indien ist nicht homogen. Es ist auch ein Land der Dörfer, in dem die Zeit stillzustehen scheint. Das ist ein völlig anderes Indien als das der Mega-Cities.“
Armut, Straßenkinder, fehlende Schulen – auch diese Bilder gehören zu seinen frühen Kindheitserinnerungen. „Als Kind wusste ich, wie die Farben des Hungers aussehen. Es ist besser geworden, aber es ist noch nicht gut.“
In Zahlen drückt sich das wie folgt aus: Zu der in Indien stark wachsenden Mittelschicht zählen laut Schätzungen rund 371 Millionen Menschen – zum Vergleich: In den 27 Mitgliedsstaaten der EU leben zusammen circa 450 Millionen Menschen. Es gibt verschiedene Prognosen, wie sich dieser Wert entwickelt. Einig ist man sich in dem Punkt, dass die Kurve weiter stark ansteigen wird.
Die US-amerikanische Investmentbank Morgan Stanley prognostiziert etwa, dass 2031 die Hälfte aller Inderinnen und Inder zur Mittelschicht gehören. Im Bericht „Indiens bevorstehender Wirtschaftsboom“ schreibt Morgan Stanley, dass Indien schon 2027 zur drittgrößten Volkswirtschaft der Welt wird und damit Deutschland und Japan überholt hätte. „Es ist eine Entwicklung, die gigantisch schnell voranschreitet“, sagt Yogeshwar.
Fest verknüpft ist der wirtschaftliche Aufschwung mit der IT-Kompetenz des Landes. Der Grundstein dafür wurde Yogeshwar zufolge bereits in den 1970er und 1980er Jahren gelegt, in Kalifornien und seinem Hightech-Mekka – dem Silicon Valley: „Damals haben dort viele Inder in der IT-Branche gearbeitet und waren deutlich günstigere Arbeitskräfte als die Amerikaner. Eine Gesetzesänderung hat dann jedoch Equal Pay, also die gleiche Bezahlung, eingeführt.“ Um konkurrenzfähig zu bleiben, seien viele in ihre Heimat zurückgekehrt, um die IT-Dienstleistungen von Indien aus anzubieten.
„Dafür brauchte es eben nur eine minimale Infrastruktur: eine stabile Stromversorgung, Computer, Datenübertragung. Und schon war man angeschlossen an die Welt. Geringe Lohnkosten und die Menschen sprachen englisch“, fasst Yogeshwar den Beginn einer Erfolgsgeschichte zusammen.
Woran es aber nach wie vor fehlt? „An eigenen Produkten“, findet Yogeshwar. Hier sei China, das sich als großer Gegenspieler für den wirtschaftlichen Westen in Position gebracht hat, bereits einen Schritt weiter.
„China hat das Selbstbewusstsein: ‚Wir bauen die besten E-Autos der Welt.‘
Das fehlt in Indien noch. Ich glaube aber, das kommt in den nächsten Jahren.
Die Karten werden neu gemischt auf der Welt.“
Mit der wachsenden Mittelschicht verändert sich das Konsumverhalten, die Kaufkraft in Indien steigt, wenn auch sehr ungleichmäßig mit einem starken Gefälle zwischen arm und reich.
Für ausländische Unternehmen bleibt der Subkontinent ein spannender Standort. Die deutschen Exporte nach Indien lagen 2024 bei mehr als 16 Milliarden Euro. Etwa 2.000 deutsche Unternehmen sind mit einer eigenen Niederlassung vor Ort, darunter auch mehrere aus Ostwestfalen. Steigende Umsätze, höhere Gewinne – das Vertrauen in den indischen Markt ist hoch.
Trotz der vielversprechenden Zukunftsaussichten warnt Yogeshwar davor, in die „China-Falle“ zu tappen, wie er sie nennt. „Wir bauen deutsche Autos, deutsche Maschinen und können damit im Ausland Geld verdienen, solange es keine anderen adäquaten Produkte gibt. In China hat sich das bei den Autos komplett gedreht und damit ist Deutschland raus“, sagt Yogeshwar.
Nur wer deutlich bessere und preislich konkurrenzfähige Produkte liefern kann, bleibe im Rennen. „Wir befinden uns in einem Marathon und dürfen nicht stehen bleiben.“
Woher kommt die Kraft, um weiter auf der Strecke mitlaufen zu können? „Innovation“, sagt Yogeshwar nüchtern. „Darin sind wir ganz gut. Deutschland hat ein Talent für Komplexität“, ergänzt er in deutscher Bescheidenheit, aus der beim Thema „German Engineering“ viel mehr Begeisterung werden müsste.
Eines dieser herausragenden Beispiele für deutsche Ingenieurskunst kommt aus Ostwestfalen von der Altendorf Group aus Minden. „Altendorf hat mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz ein Sicherheitsassistenzsystem für Formatkreissägen entwickelt, das den Menschen schützt und gleichzeitig die Maschine und Material schont“, sagt Yogeshwar. „Hand Guard“ heißt die Erfindung aus Minden, die er als Beispiel in einem Vortrag eingebaut hat. „Wenn so etwas in den USA präsentiert wird, jubeln die Leute: ‚Awesome, awesome!‘ Bei uns wird mir das zu wenig abgefeiert. Uns tut mehr Stolz gut. Wir haben so eine großartige Innovationsfähigkeit“, findet Yogeshwar.
Für derartige Entwicklungen wie aus dem Hause Altendorf braucht es kluge Köpfe, gut ausgebildete Fachkräfte. Auch in diesem Wettstreit geben die beiden Länder, die zuletzt im internationalen Wettbewerb viele andere nicht nur eingeholt, sondern überholt haben, mehr und mehr den Ton an.
Laut OECD (Organisation for Economic Co-operation and Development) kommen 2030 im Bereich der Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik, den sogenannten MINT-Fächern, 37 Prozent der Hochschul-Absolventen aus China und 27 Prozent aus Indien. Deutschlands Anteil beträgt 1,4 Prozent. Viele dieser Wissenschaftler oder Ingenieure haben keine Not, ihre Heimat zu verlassen.
„Wir müssen verstehen, dass die Inder nicht darauf warten,
nach Deutschland zu kommen. Indien ist für die reiche Mittelschicht
ein attraktives Land“, sagt Yogeshwar.
Umso mehr komme es darauf an, die eigenen klugen Köpfe in Deutschland zu halten, ihnen Spielraum zu geben. „Mehr Modernität wagen, nicht zu sehr das Alte bewahren“, beschreibt es Yogeshwar. Und das zusammenbringen, was gut ist.
Deutschland kann Komplexität. Indien kann Software. Eine Disziplin, die der Indien-Experte als „Achillesferse der deutschen Wirtschaft“ bezeichnet. „Ich würde mal sagen, 95 Prozent der Software, die wir nutzen, kommt nicht aus Deutschland.“ Gemeinsam Gutes entwickeln, für Yogeshwar gibt es dafür ein Erfolgsrezept: „Wir müssen offen und neugierig aufeinander sein.“
Reisfelder, Alleen, die alte Bahnschiene: Wie würde er die Zukunft zeichnen? Eine Zukunft der erfolgreichen wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Indien und Deutschland und für die Menschen in den beiden Ländern? „Es wäre ein Bild von gegenseitiger Empathie, Respekt und Augenhöhe. Das ist nicht einfach. Es gibt viele verschiedene Wege und wir müssen verstehen, dass wir in Deutschland nicht den einzig richtigen kennen. Indien ist anders. Es sieht nicht aus, wie in einem Dorf im Schwarzwald. Aber das wäre auch langweilig.“